Lern-Training mit einem hochbegabten Mädchen
Helene ist ein Goldstück. Leuchtende Kulleraugen, strahlend, wenn eine herausfordernde Aufgabe gestellt wird und dann wieder nachdenklich. Die kleine Helene ist neun Jahre alt, geht in die 3. Klasse und langweilt sich dort oft. Spätestens nach drei Minuten ist ihr meist klar, was der Lehrer lehren will und hat doch alles verstanden, während ihre Mitschüler sich erst einmal mit den Aufgaben vertraut machen.
Helene ist hochbegabt. Sie nimmt Dinge wahr, die andere Schüler nicht bemerken würden. Sie webt neue Informationen scheinbar mühelos in ihr schon recht beachtliches Wissensgeflecht ein, während ihre Mitschüler große Mühe haben, sich auch nur die Hälfte davon zu merken.
Welch Glück, könnte nun jeder denken. Aber wie sagte schon Adrian Monk, der geniale Detektiv aus San Francisco: Es ist ein Segen UND ein Fluch.
‚Fluch? Die Sorgen möchte ich haben‘, denken nun all die Eltern, deren Kind sich mühsam durch den Lernstoff der Schule quält und doch große Probleme hat, wenigstens auf eine Vier zu kommen.
Hochbegabte im Unterricht
Ein Fluch dann, wenn diese kleine Helene nicht in ihrer eigenen Geschwindigkeit lernen kann, in ihrer Lernwelt. Das Schlimmste, was einem Schüler passieren kann, ist, wenn er sich im Unterricht langweilt.
Das geschieht aber, wenn der Lernstoff keine Herausforderung für ihn bietet.
Wenn aber die Lernstruktur so aufgebaut ist wie in vielen unserer Schulen, in der der Frontalunterricht das Allheilmittel zu sein scheint, kommt das nur dem durchschnittlich begabten Schüler zugute. Der Hochbegabte langweilt sich und der etwas schwer Begreifende ist immer noch schwer überfordert. Für den Lehrer, der einen Lehrplan zu erfüllen hat, eine höchst komplizierte Aufgabe.
Da aber Hochbegabte sehr kreativ sind, beginnen sie dann, sich anderweitig zu beschäftigen. Sie necken ihre Mitschüler, fallen plötzlich mit einem kippelnden Stuhl um, malen in ihr Heft oder in das ihres Nachbarn. Ihr Gehirn schreit regelrecht nach Beschäftigung.
Doch für den Lehrer, der dafür zu sorgen hat, dass alle Schüler lernen können, wird nun dieser Schüler zum Störer. Ermahnungen folgen, Verweise, Briefe an die Eltern.
Wie sähe eine Lösung aus? Die Überschrift dazu wäre: Jeder in seiner Geschwindigkeit
Die überdurchschnittlich intelligenten Kinder brauchen höhere Herausforderungen, denn sie werden immer viel schneller die allgemeinen Aufgaben erledigt haben und die langsam lernenden Schüler brauchen viel mehr Zeit als der Durchschnitt.
Aber ist das in Schulen überhaupt umsetzbar?
In dieser Berliner Schule lernen Kinder in ihrer eigenen Lerngeschwindigkeit
In der evangelischen Schule Zentrum in Berlin Mitte, in der ich ein halbes Jahr lang Schüler-Lerncoaches ausgebildet habe, erlebte ich solch eine Berücksichtigung der unterschiedlichen Lerntempis der Schüler. Hier lernen die Kinder nicht mehr im Klassenverband, sondern die Schüler Klasse 7, 8 und 9 lernen alle zur gleichen Zeit in den verschiedensten Räumen in den Fächern, die sie für wichtig erachten. Die Lehrer haben sich sehr intensiv auf die selbsttätige Schülerarbeit vorbereitet und unendlich viel Material zusammengetragen. So ist für jeden etwas dabei- für den Langsamen einfachere Aufgaben, für den schnellen noch jede Menge Zusatzmaterial. Über ein von jedem Schüler zu führendes Logbuch wird dokumentiert und auch sichergestellt, dass der im Rahmenplan vorgegebene Lernstoff auch tatsächlich gelernt wird. Nur eben in jeweils der Geschwindigkeit, die jeder Lernende braucht.
Diese Art der gemeinsamen Zusammenarbeit hat auch noch einen anderen Vorteil: Gute Schüler stehen auch immer zur Verfügung, um „schwächeren“ Schülern Dinge zu erklären. So ist es auch nicht ungewöhnlich, dass ein Schüler der Klasse 9 sich beim Mathegenie aus der Klasse 7 Rat holt, wenn es um das Erlernen der binomischen Formeln holt. Wenn ein Schüler etwas einem Schüler erklärt, geht das meist auch viel effektiver und individueller. Gleichzeitig lernt auch der Erklärer und festigt seinen Lernstoff selbst auch noch besser.
Der Lehrer ist zwar im Matheraum, aber greift nur dann ein, wenn auch der schlauste Schüler nicht weiterhelfen kann.
Erst wenn der Schüler selbst einschätzen kann, dass er nun den Lernstoff beherrscht, meldet er sich zum Test an, den er dann beim Lehrer ablegt.
Coaching mit Hochbegabten und Gedichteschreiben
Helene kommt zu mir zum Coaching. Meine Aufgabe ist es, ihr ausreichend Herausforderndes für ihr wissbegieriges Gehirn zur Verfügung zu stellen, gleichzeitig aber auch Methoden an die Hand zu geben, die sie dazu befähigt, im Unterricht keine Langeweile aufkommen zu lassen.
Heute holte ich ein Utensil aus einem bisher noch nicht produzierten Spiel, um mit ihr zu spielen. Ich weiß, dass sie besonders im Sprachbereich ihren Mitschülern meilenweit voraus ist, daher ließ ich ein Säckchen greifen, um zwei Wörter zu ziehen. Ihr Händchen förderte FINDELKIND und ZITTERROCHEN hervor.
„Deine Aufgabe ist, mit mir zusammen diese beiden Wörter in ein Gedicht einzubauen.“
Ihre großen Kulleraugen schauten mich an.
„Was ist ein Findelkind?“ Ich erklärte es ihr.
„Aber die beiden Wörter passen doch gar nicht zueinander.“
„Nein? Vielleicht scheint es nur so, dass sie unmöglich in ein Gedicht passen. Was meinst du, wie sollten wir vorgehen?“
„Wir könnten Reimwörter finden.“
„Gute Idee, lass uns welche suchen.“
Wir fanden heraus:
Auf Rochen reimt sich kochen, Wochen, gebrochen, gekrochen, auf
Kind reimt sich Rind, blind, Wind und geschwind.
Nun war sie im Element. Wir wurden zu Dichtern. Wir brauchten einen Anfang. Der Rhythmus sollte auch stimmen. Wir klopften auf den Tisch. Wir knobelten und reimten:
Es war einmal ein Rind.
Das war ein bisschen blind.
Es wohnte schon seit Wochen
bei einem Zitterrochen-
geschützt vor Sturm und Wind.
Es war ein Findelkind.
Das hatte Spaß gemacht.
Schnell glitt ihr Händchen wieder in den Sack mit den Wörtern.
Oje, OHRENKNEIFER und WINDPOCKEN:
Hier unser Ergebnis
Es war einmal ein Ohrenkneifer,
der hatte hinten scharfe Greifer.
Er krabbelte im Hocken
unter braune Locken
und war doch stark erschrocken,
denn Louis hatte Windpocken.
Unser Gereimtes bei SCHLUCKAUF und ZITRONENFALTER wurde unser Liebling:
Es war mal ein Verwalter,
der hielt sich einen Falter.
Ein Schluckauf brachte ihn auf die Idee:
Zitronen falten wär okay.
Das grinst der Schmetterling: “Hey Alter,
ich bin ein Zitronenfalter.“
Aber auch das gefiel uns nicht schlecht:
Frühlingserwachen und Schneckenpost
Der Sommer hat gut lachen
und liebt des Frühlings Erwachen.
Verschickt den kalten Frost,
gleich mit der Schneckenpost.
Pudelmütze und Rettungsring
Ein Falter mit ner Pudelmütze
landet in ’ner dreck’gen Pfütze
und dacht bei sich:
„Das ist ja ’n Ding:
Zum Glück hab ich als Schmetterling
immer dabei ein‘ Rettungsring.
Ich glaube, wir hätten den ganzen Nachmittag so weitermachen können, doch die Coachingzeit war längst abgelaufen und Helene musste zum Sport.
Ob uns das uns beiden Spaß gemacht hat?
Euer Jens